Ja, ich lese Klassiker. Als Autor sollte man seine Tradition kennen, deshalb folge ich auch „Literatur ist Alles“ dem YouTube-Kanal von Markus Gasser. Wenn man das tut, kommt man zwangsläufig auch nicht um Charles Dickens, Vladmir Nabokov und eben Lew Tolstoi vorbei. Aber auch anderswo gilt: Anna Karenina sei ein Beispiel für einen perfekten Roman. Aus dem Grund habe ich mir das Epos mit fast 1300 Seiten vorgenommen.
Für meine Lektüre habe ich die Übersetzung von Rosemarie Tietze des DTV-Verlags aus dem Jahr 2011 gewählt. In dieser Rezension werde ich mich inhaltlich zurückhalten, da die Geschichte um Anna Karenina, ihren Ehemann und Wronski wohl hinlänglich bekannt und im Internet verfügbar ist. Anstelle dessen möchte ich darüber sprechen, wie ich die Lektüre empfunden habe.
Anna Karenina ist ein Klassiker, ein Meisterwerk und nicht zuletzt einfach ein gutes Buch. Trotzdem kommt dieses Buch nicht auf die Liste meiner zehn Lieblingsbücher und ich werde es auch definitiv kein zweites Mal lesen. Das hört sich nach einem Widerspruch an? Vielleicht trifft das zu, vielleicht auch nicht. Grundsätzlich gibt es für mich keinen Widerspruch. Persönlicher Geschmack sollte (und darf) nicht das qualitative Urteil über einen Roman beeinflussen.
In der Tat war es so, dass ich das Buch während der Lektüre regelrecht als Last empfunden und am liebsten in den Müll geschmissen hätte. Das lag jedoch ausschließlich an meiner Erwartungshaltung und an meinem Geschmack. Lew Tolstoi hat einen epochalen Gesellschaftsroman des zaristischen Russlands erschaffen, der äußerst opulent und kunstvoll geschrieben ist. Weder Tolstoi, noch das Buch kann etwas dazu, dass ich große Teile davon geradezu einschläfernd langweilig empfunden habe. Exemplarisch seien hier die seitenlangen Exkurse über den russischen Landarbeiter und die Landwirtschaft an sich genannt.
In großen Teilen stimme ich Roger Wilhelmsen Meinung, die er einst über Anna Karenina als Protagonisten formuliert hat. Tolstoi kann seine Anna nicht gemocht, oder gar geliebt haben. Zwischen seiner Beschreibung ihrer Person und ihres Charakters klafft eine Art Lücke, die bei anderen seiner Figuren nicht existiert. Immer wieder wird Tolstois Fähigkeit für gekonnte Charakterisierungen gelobt und das ist mir etwas schleierhaft. Was Tolstoi definitiv wie keinem anderen gelingt, ist die Darstellung der inneren Zerrissenheit seiner Charaktere: Anna wird zwischen Familie und Liebe aufgerieben, Wronski zwischen dem Leben als Vater und Karriere, Karenin zwischen Religion und wahrer Liebe, Lewin zwischen Nihilismus, Glaube und Progressivismus usw. usw. Diese Darstellungen finde ich hervorragend, leider führt das aber nicht zu dem Gefühl von Nähe zu den Figuren. Dies habe ich bei Dostojewski und Tschechow besser entdecken können.
Andererseits irrt Wilhelmsen natürlich in ein paar anderen Punkten, denn Anna stirbt nicht „ein paar hundert Seiten“ vorm Schluss und muss die Hauptfigur des Buches sein, da sie die Bindestelle für die anderen Schicksale der übrigen Protagonisten ist.
Andere Kritiker behaupten, dass gerade der Schluss von Anna Karenina äußerst schwach sei und eher Tolstois Hang zu journalistischen Texten entspräche. Gerade dieser Schluss ist es, der das Buch für mich zu einem sehr guten Abschluss gebracht hat, indem gerade das Spannungsfeld um Lewin aufgelöst werden konnte. Das war für meinen Geschmack definitiv nötig und trägt letztlich zum hohen Ansehen des Buches und Tolstoi als Erzähler bei.
Mir ist hingegen ein formaler Punkt aufgesto0en. Beim Lesen habe ich mir an einer Stelle einfach mal den Spaß gemacht und auf einer Seite die permanenten Wiederholungen der immer gleichen Namen markiert. Russische Namen sind ja von Natur aus nicht kurz und bestehen meistens aus drei Bestandteilen. Werden diese Benennungen andauernd wiederholt, hat dies etwas von einer Gebetsmühle. Einerseits gestaltet sich das Lesen durch diese Praxis extrem zäh, andererseits könnte der massive Umfang des Buches drastisch durch eine maßvolle Überarbeitung verringert werden. Ja, damit gingt vielleicht etwas an Authentizität verloren, im Gegenzug würden Zugänglichkeit und Lesbarkeit gesteigert. Wie gesagt, das ist ein formaler Kritikpunkt, der für mich aber wirklich groteske Züge trägt.
Als Autor habe ich jedoch von der Lektüre profitiert, wenn ich auch niemals ein Buch wie Anna Karenina schreiben werde. Die Passagen über den Maler in der russischen Kolonie in Russland, Lewins Sinnfindung, die Interaktion der Charaktere und wie ein Roman authentisch aus der Sicht vieler unterschiedlicher Charaktere erzählt werden kann, sind für mich absolut meisterhaft.
Eine kleine Anekdote habe ich noch zum Schluss, auch wenn sie mit dem Buch an und für sich nichts zu tun hat. Sie bezieht sich auf die Verfilmung von Anna Karenina mit Keira Knightley in der Titelrolle, von 2012. Beim Zappen sah ich zufällig einen Ausschnitt und blieb hängen, bis ich Aaron Taylor-Johnson als Wronski sah. Keira Knightley ist zweifellos eine attraktive Frau, aber eine absolute Fehlbesetzung. Wronski hingegen verkommt zu einem teenageresken Schnäuzchenträger und entbehrt dabei auch nicht einer absurden Komik. Dass dieses Jüngelchen für eine Frau wie Anna Karenina der Grund für ihren totalen Schiffbruch gewesen sein könnte, ist schlicht irrwitzig. Hier wird vielleicht erneut die wahre Größe dieses Meisterwerks ersichtlich, denn die Figuren haben sich in mein Bewusstsein eingebrannt.
So viel zum Thema Anna Karenina!
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