Seit Jahren erzählen mir Leute von einem neuen Bekannten, der sie teilweise sehr ärgert. Ich habe nun auch die zweifelhafte Freude, ihn zu kennen. Nachnamen hat er keinen, er ist einfach als Tinnitus bekannt.
Vielleicht werde ich tatsächlich alt. Das erste Mal hatte ich mit T. während einer Infektion zu tun. Bislang waren meine Ohren meist verschont geblieben, doch dieses Mal war das linke Ohr richtig „zu“. Die Erkältung heilte aus, und eigentlich war alles gut. Irgendwann hörte ich dann aber dieses tiefe Brummen, so als liefe vor dem Haus ein Dieselmotor.
Dann verschwand es eine ganze Zeit, und ich habe T. nicht vermisst. Irgendwann kam er wieder, meist wenn ich angeschlagen oder müde war. Zu Anfang hatte ich den Eindruck, dass es irgendwie mit meinem Nacken zu tun haben könnte. Je nach Beugung und Drehung schien das Geräusch anders zu sein. Mir war es egal, und ich ließ es brummen, bis es irgendwann ganz verschwand.
Bis letzte Woche blieb Freund T. weg – keine Postkarten, kein Anruf. Anfang der Woche meldete er sich jedoch fulminant zurück. Diesmal war er relativ deutlich zu hören, und vor allem nicht zu überhören: Er blieb plötzlich dauerhaft. Ich habe ein neues Feature in meinem Leben freigeschaltet – leider kein wirklich positives, aber was bekommt man auch Gutes, ohne dafür zu bezahlen?
In der Stille wird Freund Tinnitus besonders laut – fast so, als würde er die Abwesenheit anderer Geräusche als Bühne sehen. Leider muss ich dir sagen, lieber Tinnitus: Deine Auftritte sind eintönig. Viel zu statisch und einfallslos bist du mit deinem dumpfen Gebrumme.
Gibt es etwas Positives am Tinnitus? Eingangs vermutete ich ja schon, dass es auch ein Symptom fürs Älterwerden sein kann. Gut, ich bin 46, noch keine 64 – aber taufrisch ist anders. Kann man den Tinnitus nicht in eine Reihe mit Arthrose, Krampfadern und Haarausfall setzen? Doch, das kann man. Am häufigsten tritt der Tinnitus um das 50. Lebensjahr auf. Auch wenn 50 das neue 30 ist, ist man eben keine 20 mehr. Dieser Wahrheit sollte man ins Auge blicken. Und dem kann man sehr wohl etwas Positives abgewinnen: Ich durfte bereits mehr Leben genießen als viele andere Menschen. Positivistisch angehaucht könnte man sagen: Danke, ich darf anfangen, alt zu werden.
Und sonst? Gibt es da noch etwas Gutes? Nun, es hört sich vielleicht ketzerisch an, aber ich denke schon. Mein Tinnitus ist vielleicht weniger schlimm ausgeprägt als bei anderen – das möchte ich nicht bezweifeln. Aber ich glaube, dass mir Freund Tinnitus hilft. Vielleicht gehe ich manchmal zu sehr in den Stress hinein und bekomme das dann durch Brummen und Sausen widergespiegelt. Dann weiß ich: Es ist Zeit für eine Pause. Du solltest mehr auf dich achten. Das wusste ich zwar auch ohne Tinnitus, aber hat es mich interessiert? Gegenfrage: Hätte ich Freund Tinnitus überhaupt kennengelernt?
Tinnitus und meine Beziehung ist noch recht jung. Vielleicht wird aus ihm irgendwann ein ruhigerer Begleiter – oder ich lerne einfach, besser mit ihm zu leben. Sollte sich etwas ändern, halte ich euch auf dem Laufenden. Und was ist mit euch? Wie geht ihr mit unserem gemeinsamen Freund um? Ich freue mich auf eure Geschichten.
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