Vielleicht hat jeder Mensch etwas, wonach er sucht und was ihn manchmal nachts nicht schlafen lässt. Kapitän Ahab hatte Moby Dick, Odysseus den Weg in seine Heimat und Frodo Beutlin den Ring. Zugegeben, im Vergleich zu diesen Beispielen ist mein Gegenstand regelrecht gewöhnlich. Und trotzdem hat er mich fast 30 Jahre beschäftigt. In diesem Artikel erkläre ich, worum es sich handelt und wie ich meine Suche schlussendlich erfolgreich abschließen konnte.
Es war 1997, also vor nicht weniger als 28 Jahren. Meinem Opa ging es nicht so gut, er musste in eine Fachklinik im Westerwald eingewiesen werden. Wir haben ihn dort regelmäßig besucht, wie man das eben so macht.
In seinem Krankenzimmer gab es eine Zeitschriftenablage, die mit dem „Weltbild Magazin“ ausgestattet war. Da das Krankenhaus in kirchlicher Trägerschaft war und die Kirche auch irgendwie mit dem Weltbild Verlag verbunden war, liegt der Schluss nahe, dass das Magazin vom Krankenhaus ausgelegt wurde.
Ich war damals schon eine Leseratte, und in dem Magazin wurden neue Bücher vorgestellt sowie Interviews mit Autoren abgedruckt. Damit konnte ich mir die Krankenhausbesuche verkürzen, wenn mein Opa zur Untersuchung musste.
Jedenfalls gab es einige interessante Artikel, unter anderem auch über das Schreiben selbst. Ein Interview samt Buchvorstellung tat es mir aber ganz besonders an. Es war der Debütroman eines jungen englischsprachigen Autors, in dem ein älterer Mann seinem Sohn von seinem Leben erzählt. Das hört sich nicht sonderlich spannend an, aber oft geht es neben dem Inhalt ja gerade auch um die Form. Außerdem gab der Autor sehr tiefgründige Antworten.
Nun sind Krankenhausbesuche nicht wirklich für ihren wohltuenden oder entspannenden Charakter bekannt. Oftmals sind sie eher stressig und sorgenbeladen. So auch in dieser Episode. Das muss der Grund sein, weshalb ich mir weder den Autor noch den Titel des Romans notiert habe.
Seit dieser Zeit habe ich das Buch nie vergessen. Siebenundzwanzig Jahre später ist mein Großvater leider längst verstorben, und ich bin kein junger Mann mehr. Trotzdem musste ich immer wieder an diesen Roman denken. Wenn du magst, kannst du ja versuchen, ob du das Buch erraten kannst:
- Erscheinungsjahr ca. 1993–1997 (genauer kann ich es nicht sagen, da die Zeitschrift, in der es vorgestellt wurde, vor 1997 erschienen sein könnte)
- Debütroman eines jüngeren englischsprachigen Autors
- Es geht um einen älteren Mann, der einem jüngeren Mann (oder Sohn) sein Leben erzählt
Mehr Informationen hatte ich nicht.
Zuerst habe ich vergeblich versucht, an Ausgaben des Weltbild Magazins aus der betreffenden Zeit zu gelangen. Offensichtlich gab es kaum Sammler. Als Nächstes habe ich bei Weltbild nachgefragt, ob die Ausgaben digitalisiert wurden oder noch Exemplare vorhanden wären – Fehlanzeige. Es folgten Recherchen über den Katalog der Deutschen Nationalbibliothek, das Verzeichnis antiquarischer Bücher und weitere Suchen in Onlineverzeichnissen. Auch hier wurde ich nicht fündig.
Dann widmete ich mich YouTube und versuchte, über Sendungen wie das „Literarische Quartett“ aus dieser Zeit fündig zu werden. Dabei fand ich fast nur die erfolgreichsten Autoren der betreffenden Zeit, was überhaupt nicht half. Außerdem hatte ich das Buch in dieser Weise auch gar nicht in Erinnerung.
Mit ChatGPT habe ich dann einen weiteren Anlauf gewagt, was aber nicht zielführend war. Das kann diese App einfach nicht. Egal, was ich probiert habe – es führte in eine Sackgasse. Mit der Zeit habe ich mich damit abgefunden, dass es wohl Informationen gibt, die für immer verloren sind. Dieser Roman gehörte wohl auch dazu.
Trotzdem wollte ich nicht aufgeben, aber ich änderte meine Herangehensweise. Wenn dieser Autor mit seinem Debüt erfolgreich war, dann bestand doch auch die Wahrscheinlichkeit, dass er noch weiter aktiv war.
Deshalb kümmerte ich mich jetzt um die Bestsellerlisten der jeweiligen Jahre. Das war dann die absolut heillose Suche im Heuhaufen – leider völlig sinnlos. Zu viele Daten, zu wenig Anhaltspunkte.
Irgendwie schwirrte mir im Kopf herum, dass der Autor des gesuchten Romans vorher mal einen Literaturpreis für eine Kurzgeschichte bekommen hatte. Was lag also näher, als mir die Listen mit Preisträgern anzusehen? Das Problem dabei: Welche Preise kamen dafür infrage, und wie weit musste ich zurückgehen? Außerdem bewegte ich mich langsam aber sicher auf die Zeit vor dem Internet zu. Damit reduzierte sich die Wahrscheinlichkeit, überhaupt etwas im WWW zu finden. Und so war’s auch… Auch diese Suche führte geradewegs ins Nichts.
Wieder war ich an einem zumindest vorläufigen Ende angekommen. Wieder musste ich an die Hefte des Weltbild Magazins denken, aber die waren einfach nicht zu bekommen. Also beschloss ich, die Sache erstmal zu den Akten zu legen. Vielleicht ergab sich irgendwann etwas.
Kürzlich sah ich mir das Programm der diesjährigen Lit.Cologne an. Ein Teil der Auftritte würde erst im Februar veröffentlicht werden, aber ein Teil war schon da. Die Ex-Kanzlerin präsentierte ihre Biografie vor ausverkauften Rängen, irgendjemand veranstaltete ein Panel zu Justus Jonas, und ein paar Comedians steuerten auch einen Auftritt bei. Dann stolperte ich über „Twist – Colum McCann und Jan-Gregor Kremp über eine Eskalation auf hoher See“ und stutzte. Das Foto von Colum McCann kam mir irgendwie vertraut vor. Wo sollte ich ihn einordnen? Hatte ich mal etwas von ihm gelesen? Ich konnte mich nicht recht erinnern und scrollte weiter. Drei Veranstaltungen später scrollte ich noch mal hoch.
Der Autor trug eine (mehr oder minder) Glatze mit silbrig-dunklem Haarkranz. Das Gesicht sagte mir aber etwas. Colum McCann, dachte ich. Ein relativ einfacher, englischer Name… Er war jetzt 59 Jahre alt. Ende der Neunziger war er dann irgendwas um die Dreißig… Okay, er war durchaus ein potenzieller Kandidat für den gesuchten Autor. Aber war das nicht völlig verrückt?
Ich betrachtete erneut das Bild. Der Haarkranz war definitiv dunkel. Der Autor im Weltbild Magazin hatte volle dunkle Haare gehabt. Männer verlieren im Laufe der Zeit Haare. Davon kann ich ein Lied singen, aber das ist ein anderes Thema.
Ich zögerte, Wikipedia aufzurufen. War meine Suche jetzt zu Ende? Sollte die jahrzehntelange Suche durch einen Zufallstreffer mit Erfolg belohnt werden?
Natürlich habe ich nachgesehen. Sein Debüt „Sundogs“ (1995) wurde 1997 in Deutschland unter dem Titel „Der Gesang der Kojoten“ veröffentlicht. Und es geht um einen Vater, der seinem Sohn in Gesprächen von seinem Leben berichtet. Außerdem hat er 1994 den Rooney-Preis für irische Literatur gewonnen.
Das passte einfach zu gut. Aber war jetzt Colum McCann der gesuchte Autor? Bei YouTube fand ich einen Fernsehbeitrag des SWR über McCanns Buch „Der Himmel unter der Stadt“ und fuhr regelrecht zusammen: Volles dunkles Haar, zweifellos der gesuchte Autor!
BAMM!
Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich jetzt fühle. Natürlich bin ich glücklich – ich habe meinen „Weißen Wal“ erlegt. Aber ich bin auch verwirrt: Wie selektiv nehme ich eigentlich die Welt wahr? Sämtliche Bücher von Colum McCann sind mindestens interessant für mich – weshalb ist er außerhalb meines Fokus geblieben?
Ich habe mir „Der Gesang der Kojoten“ sofort bestellt. Als Hardcover. In mir ist eine ziemliche Spannung: Was ist, wenn ich das Buch furchtbar finde? Habe ich dann jahrelang sinnlos ein Phantom gejagt?
Trotzdem fühlt es sich auf fast magische Weise richtig an. Vielleicht ist das ja auch eine Art Zeichen, dass ich jetzt auf meine ursprüngliche Lebenslinie zurückgekehrt bin? Selbst wenn ich den Stil furchtbar finden sollte, es mich langweilt oder ich davon abgestoßen werde – ich werde diesen Roman lesen, weil ich es einfach muss!
Vielleicht hört es sich kindisch und vermessen an, aber diesen Roman werde ich mit einer Widmung für mich selbst, die 28 Jahre und die Menschen, die mich dabei begleitet haben, versehen. Die Suche nach dem Roman und seinem Autor hat mich natürlich nicht wie Odysseus oder Frodo beansprucht. In dieser Zeit gab es aber viele Ziele, die ich glaubte, erreichen zu müssen. Kein einziges davon war an sich auch nur einen Cent wert und gleichzeitig waren sie allesamt unbezahlbar, denn sie haben mich zu mir selbst geführt.
Auch wenn es paradox anmutet – am Ende war es eine Rundstrecke. Aber ich musste den Umweg machen, um die Dinge wirklich auf allen Ebenen zu verstehen. Jetzt bin ich angekommen und brauche keinen Moby Dick mehr. Was aber nicht bedeuten soll, dass ich einer guten Jagd abgeneigt wäre – aber nicht wegen des Ziels, sondern ihrer selbst.