Der Bugatti-Glitch

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Wenn Videospiele schummeln und digitale Illusionen entzaubert werden

Heute wird es nerdig. Ich bin nicht nur stolzer Besitzer einer Xbox 360 aus dem Jahr 2010, ich spiele sogar damit. Da ich mir nichts aus Onlinegezocke mache, tangiert mich auch das Abschalten der Microsoft-Server nicht.

Der Grund für den Kauf der Xbox 360 bestand aus einem Begriff: Forza. Genauer gesagt Forza 3. Davor fuhr ich leidenschaftlich Gran Turismo, aber das Schadensmodell von Forza hatte meine Neugierde geweckt. Im Gegensatz zur Konkurrenz von Sony kann man sich nämlich bei Forza auch die Autos kaputtfahren. 

Die Konsole begleitet mich jetzt schon eine ganze Weile und sogar mein Sohn hat den Spaß an Rennspielen entdeckt. Nachdem meine Xbox 360 Jahre als Staubfänger verbracht hat, fahren wir jetzt gemeinsam Rennen. Das hat mich wieder auf den Geschmack gebracht und ich kann mich so richtig in das alte Spiel hineinsteigern. Dabei sind mir ein paar Ungereimtheiten aufgefallen, die ich früher übersehen habe.

Nach vielen Stunden des Rennfahrens (vor allem in Le Mans) ist mir der scherenschnittartige Charakter der Fahrphysik mehr als deutlich bewusst geworden. Es gibt eine Ideallinie und wer wenige Zentimeter daneben durch eine Kurve fährt, landet oftmals unweigerlich im Kiesbett oder an der Leitplanke. Von wegen alternative Linien und so… Das spart natürlich Rechenleistung, hat aber wenig mit der Realität zu tun. Selbiges gilt für die Bremspunkte. Entweder man trifft sie oder landet bei Variation schnell außerhalb der Strecke. Auch das schafft klare Ergebnisse und entlastet die Spiel-Engine. Doof, aber okay.

Dann gibt es Etwas, das für mich schwerer wiegt. Stellen wir uns erneut die Rennstrecke von Le Mans vor, die in Forza 3 digitalisiert vorliegt. Eine Runde ist fast 14 Kilometer lang, was ja viel digitales Holz ist. Auf dem Asphaltband mit seinen Geraden, Schikanen und normalen Kurven ist nun ein ganzes Starterfeld unterwegs. Das bedeutet, dass die Spiel-Engine permanent wissen muss, wo jedes der einzelnen Rennautos auf der Rennstrecke mit welcher Geschwindigkeit und Richtung unterwegs ist. Das ist ein richtiger Datenwust, der einiges an Rechenleistung benötigt und der die oben genannten Einschränkungen in der Spielmechanik nachvollziehbarer macht.

Kürzlich hatte ich jedoch einen Aha-Moment, der mir noch mehr über das Spiel verraten hat. Auf irgendeiner Strecke verbremste ich mich so richtig und landete voll im Graben. Da es sich um ein Ausdauerrennen (mit vielen Runden) handelte und das Auto keinen Schaden abbekommen hatte, fuhr ich einfach auf die Strecke zurück und nahm die Verfolgung meiner Konkurrenten auf. Mittlerweile war deren Vorsprung auf 20 Sekunden gewachsen, was mir mehr als genug Zeit ließ, um wieder aufzuschließen. 

Aber dann wurde es absurd. Sobald ich auf einer Geraden (!) die fiktive Ideallinie verließ, wurde der Abstand auf die (nicht sichtbaren) Gegner größer, obwohl ich mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs war. Steuerte ich auf die virtuelle Ideallinie zurück, holte ich am nächsten Messpunkt wieder auf.

Ich glaube, dass ich hier an die Grenzen des Forza-Algorithmus gestoßen bin. Diese merkwürdige „Hochrechnerei“ über imaginäre Ideallinien (auf gerader Strecke ist jede Linie ideal) sagt mir, dass es  eben doch kein virtuelles Modell der Strecke gibt, auf dem faktisch alle Rennautos des Fahrerfeldes unterwegs sind und ein reales Rennen gegeneinander fahren und die in ständig wechselnden Abständen zueinander im Raum existieren. In meinem Kopf ist das eine abstrakte Darstellung, die 1:1 dem Renngeschehen auf einer realen Rennstrecke gleicht. Der Computer tut allerdings nur so, als wäre das der Fall. Genauer gesagt, ist das nur in den Situationen der Fall, wenn sich der Spieler in Sichtweite zu den Gegnern befindet. Ansonsten wechselt das System in ein rein möglichkeitsbasiertes, aus simplen „Wenn – Dann“-Routinen bestehendes Modell: Wenn der Spieler die Ideallinie nicht verlässt, die im System hinterlegt ist, dann kann er aufschließen – weil die computergesteuerten Rennwagen wie auf Schienen immer eine virtuelle Soll-Zeit oder schneller fahren. Wenn der Spieler nicht der Ideallinie folgt, dann fährt er hinterher. Es spielt also keine Rolle, wie schnell die Computergegner wirklich im aktuellen Rennen fahren, sondern wie ihre Fahrt geplant ist. Daraus folgt, dass der Spieler sich entweder innerhalb des vorher definierten Modells befindet oder außerhalb. Ist Letzteres der Fall, vergrößert sich der Abstand wie durch Zauberhand. Es kann eben nicht sein, was laut Programmierern nicht sein darf! 

Das hört sich extrem nerdig an und ist es vermutlich auch. Trotzdem ist es für mich so interessant, dass ich einen Artikel darüber schreibe. Vielleicht ist es die gleiche Faszination, mit der andere Zeitgenossen die Illusion eines Zauberkunststücks aufdecken. Denn genau das sind Videospiele eben, nur eben digital. Sie sind digitale Illusionen!

Aber was hat das mit einem „Glitch“ zu tun? Unter Glitch versteht man in der Elektronik eine zeitlich begrenzte Falschaussage in einem logischen System. Auch Filmfehler werden gelegentlich als Glitch bezeichnet. Einem größeren Publikum ist der „Glitch in der Matrix“ im gleichnamigen Filmuniversum ein Begriff geworden: Der Fehler in der Matrix. In Gamer-Kreisen hat sich dieser Begriff ebenso eingebürgert, meist im Sinne eines Fehlers, den der Spieler ausnutzen kann.

Wir befinden uns immer noch in der Forza 3-Fahrsimulation. Im Wettbewerbsmodus gibt es dort den „International S-Cup“ bei dem Supersportwagen gegeneinander antreten. Schon bei den ersten Rennen bemerkte ich, dass der teilnehmende Bugatti Veyron mein größter Widersacher war. Als „Le Mans“ Austragungsort wurde, rechnete ich mir trotzdem Chancen aus – hatte ich doch in letzter Zeit Stunden mit meinem Sohn darauf verbracht – und kannte gefühlt jeden Quadratzentimeter. Sekunden nach dem Rennstart lösten sich meine Hoffnungen auf, denn der Bugatti war in der ersten Kurve viel zu schnell und hängte mich auch auf den folgenden Kurven ab, um auf der Geraden mit weit über 300 Stundenkilometern das Weite zu suchen.

Der Bugatti war mir so überlegen, dass ich ihn unbedingt testen wollte. Was dann passierte, war kurios: Ich konnte den Wagen unmöglich so fahren, dass ich ebenso schnell wie mein Widersacher durch die Kurven kam. Schon gar nicht in der Geschwindigkeit, mit der das der Computer tat. Nach all‘ meinem „Fahrstunden“ in Forza 3 halte ich die Fahrweise des Computers für physikalisch unmöglich. Es geht nicht!

Aufgrund der Beschränkungen des Cups kann der Spieler keine Modifikationen oder Tuning an den Fahrzeugen vornehmen. Und genau hier liegt der Glitch im Pfeffer: Der Computer-Bugatti Veyron hat im Wettbewerb bessere Reifen, als er haben dürfte, und klebt deshalb am Asphalt, während mein (angeblich identischer) Bugatti wie auf Glatteis aus der Kurve rutscht. Für den Computer gelten nicht seine eigenen Beschränkungen!

Im Internet findet man zu diesem Thema Einträge, u.a. bei Reddit. Irgendwo sollen die Programmierer sich mal zu der Sache geäußert haben. Diese (und andere „Glitches“!) existieren, um das Spiel für den Spieler schlichtweg spannend zu halten. 

Nun ja…da kann man sicher geteilter Meinung sein. Von einem menschlichen Spieler betrogen zu werden, ist schon wenig erfreulich. Dass es systematisch vom  „objektiven“ Computergegner getan wird, fühlt sich für mich ziemlich falsch an! 

Ich will ehrlich sein. Diese Erkenntnisse haben mir das Spiel verdorben. Nein, das stimmt nicht… Das Wissen über diese Zusammenhänge hat mir die Illusion einer Rennsimulation verdorben. Die Macher von Forza 3 haben keine Rennsimulation erschaffen, sondern sie simulieren eine Rennsimulation. Mein Sohn hingegen sieht das anders. Für ihn ist dieser Sachverhalt noch nicht ganz so transparent und Videospiele haben für ihn noch etwas mystisch Geheimnisvolles. Außerdem baut er viel zu gerne Hochgeschwindigkeitscrashs mit den computergesteuerten Gegnern und erzeugt damit gelegentlich seinerseits Glitches, wenn sich z.B. ein Rennwagen hinter einer Leitplanke verhakt und es nicht mehr zurück auf die Rennpiste schafft.
Meine Xbox 360 werde ich natürlich nicht einmotten, dafür jedoch mal zur Playstation 3 meines Schwagers wechseln, um dort im Einzelspielermodus Gran Turismo zu spielen. Es gibt ja noch viele Rennen zu fahren!


Deine Meinung interessiert mich natürlich: info@stefanhensch.de