Nachdem ich „ES“ nun endlich vollständig gelesen habe, habe ich Lust auf den „Reread“ einiger King Bücher bekommen und möchte andererseits einige seiner Frühwerke überhaupt mal lesen. Den Anfang macht Cujo in der Ausgabe von Heyne mit rund 416 Seiten (für King`sche Verhältnisse also ein echtes Leichtgewicht!).
Lange Zeit hat mich Cujo so gar nicht interessiert: Tollwütiger Bernhardiner attackiert Mutter und Sohn in einem liegengebliebenen Auto. Fast jeder hat wohl zumindest ein paar Szenen der gleichnamigen Verfilmung vor Augen, nur Tierhorror eben – oder?
Nun ja, in der letzten Zeit habe ich mich etwas intensiver mit Stephen King beschäftigt und fand Videos auf YouTube, die durchaus anders über das Buch urteilten. Oftmals fiel dazu der Begriff unterbewertet. Woanders las ich, dass Cujo durchaus mehrere Deutungsebenen und reichlich Interpretationsspielraum bietet. Also war die Zeit für dieses Buch einfach reif und ich fing mit dem Lesen an. Und was soll ich sagen? Ich wurde ganz und gar nicht enttäuscht.
Wer noch nie ein Buch von Stephen King gelesen hat, dem sei Cujo besonders an Herz gelegt. Hervorragende Charakterisierungen, atmosphärische Dialoge, treffende Metaphern: alles da. Der YouTuber Literatur und Whisky nennt den Altmeister wohlwollend Geschichtsplauderer und dies findet man ebenfalls hier. Das mag man, oder eben nicht. Kurz: Cujo ist Stephen King in einer Nussschale und man weiß schnell, ob man mit seinen Büchern etwas anfangen kann.
Das ist aber nicht alles, die Geschichte um das Ehepaar Trenton und ihren Sohn Tad bietet noch mehr, viel mehr sogar. 1981 war Cujo ein Skandalbuch, denn es wagte einen Tabubruch. Generell durfte in Geschichten fast alles passieren, Kinder durften jedoch nicht zu Schaden kommen. Interessanterweise legte Lewis Teague mit seiner Verfilmung im Jahre 1983 den Rückwärtsgang ein und befolgte die ungeschriebene Maxime, um dem Film somit ein völlig anderes Ende zu. Damit wird die Geschichte jedoch entschärft und verliert dabei für mich massiv an Bedeutung.
Im Grunde scheitern in Cujo fast alle: Vic Trenton als Familienvater und Ehemann; seine Frau Donna als Ehefrau und Mutter; Donnas Liebhaber Steve Kemp als Mensch; Mechaniker Joe Camber als Hundehalter, Familienvater und Ehemann; Sheriff Bannerman als Polizist, ein Star-Staatsanwalt als Ermittler… Nur Charity Camber, die Ehefrau von Joe Camber macht eine erstaunliche Entwicklung durch und schafft die Weiterentwicklung aus freien Stücken – was sehr glaubhaft und psychologisch einfühlsam beschrieben wird.
Aber der Reihe nach. Der Roman bietet drei voneinander getrennte Handlungsstränge: Der Kampf von Vic Trenton und seinem Partner Roger Breakstone um das Überleben ihrer Werbeagentur; Charity Cambers Versuch, sich von ihrem Mann Joe zu trennen und damit ihrem Sohn Brett eine bessere Zukunft zu ermöglichen und natürlich das Duell zwischen Donna Trenton und ihrem Sohn Tad gegen den tollwütigen Bernhardiner.
Im Vordergrund steht natürlich das Leben des Ehepaars Trenton, was natürlich vom Schicksal der kriselnden Werbeagentur beeinflusst wird. Donna wird von Vic völlig alleingelassen, muss sich um Haushalt und Kind kümmern. Vic merkt überhaupt nicht, was er seiner Frau (und seinem Sohn) damit antut. Charity hingegen hat neben dem Alleinsein und der Überforderung noch ein anderes Problem. Der Vierjährige Tad wird sie ebenfalls bald verlassen, da er zukünftig im Kindergarten und danach in der Schule sein wird. Damit wäre Charity ganz alleine und (subjektiv empfunden) nutzlos. Aus dieser Situation heraus lässt sie sich auf eine Liaison mit dem Tennislehrer und Möbelrestaurator Steve Kemp ein, die sie nach kurzer Zeit beendet. Doch Kemp akzeptiert das Beziehungsende nicht, fühlt sich gedemütigt und sinnt auf Rache. Der Egokranke schickt Vic einen anonymen Brief, um ihn über die Affäre von Donna in Kenntnis zu setzen. Kurz vor Vics wichtiger Dienstreise kommt es zur Konfrontation der Eheleute und in dieser Situation vergisst der Ehemann, sich um einen Werkstatttermin für den Wagen seiner Frau zu kümmern. Um ihrem Ehemann zu zeigen, dass sie die Dinge auch ohne ihn regeln kann, begibt sie sich mit Tad auf eine Fahrt zur etwas abseits gelegenen Werkstatt von Joe Camber. Der Wagen hält geradezu auf letzter Rille durch und gibt dann auf dem Hof der Werkstatt den Geist auf. Genau dort, wo der tollwütige Bernhardiner Cujo bereits zwei Menschen auf dem Gewissen hat. Mutter und Sohn können nicht wegfahren, aber auch das Auto nicht verlassen. Und in den nächsten Tagen soll es ziemlich heiß werden… Natürlich hat Donna weder genug Wasser, Verpflegung noch eine Waffe mitgenommen…
Wie schon angedeutet wird Tad nicht überleben, und stirbt aufgrund akuter Dehydrierung. Dies hat mich extrem mitgenommen, da der Autor hier nicht auf die Tränendrüse drückt, sondern sich fast schon auffällig bei der Schilderung zurückhält. Dies verstärkt zumindest bei mir den Horror, da es sich für mich deutlich realer als eine melodramatischere Schilderung anfühlt.
Der Wagen der Trentons befindet sich nur acht Fuß von der Verandatür der Cambers entfernt, also weniger als zweieinhalb Meter. Im Text erzählt King, dass die Menschen selbst in der Kleinstadt Castle Rock die Türen nicht abschließen, also dürfte das für die abgelegene Werkstatt ebenfalls zutreffen. Donna Trenton muss das mit Sicherheit gewusst haben. Es ist sogar so, dass die Ehefrau selbst ihre Tür nicht abgeschlossen hat und somit ihrem Ex-Liebhaber Kemp den Zutritt in ihr Haus ermöglicht hat. Den Mut, das Auto zu verlassen und einen kurzen Sprint zur Tür zu wagen, bringt sie leider nicht auf.
Donna bleibt zweieinhalb Tage im heißen Wagen und steigt erst aus, nachdem der örtliche Sheriff eintrifft und von Cujo getötet wird. Es kommt zum finalen Kampf, indem Donna den mittlerweile ebenfalls geschwächten Hund mithilfe eines weggeworfenen Baseballschlägers töten kann. Leider ist es schon zu spät, Tad hat die Hitze im Wagen schlussendlich nicht überlebt. Dies ist aber noch nicht das Ende des Romans der – zumindest für mich – eine überraschende Wende nimmt und die ich hier nicht verraten möchte.
Grundsätzlich kann man an dieser Stelle aufhören, muss man aber nicht. Cujo ist für mich ein völlig unterschätztes Buch, zu dem sich weitere Deutungen anbieten. Gängig ist die autofiktionale These, in der die Familie Trenton nur als Platzhalter für die Familie King dient. Diese wurde in der Entstehungszeit des Romans ebenfalls von einem sehr realen Monster bedroht, nämlich dem Drogenkonsum von Stephen King. Diese Deutung bietet sich durch einen wiederkehrenden Traum von Vic Trenton an, ist jedoch nicht die einzige.
Im Text wimmelt es von interessanten Passagen, die zum wiederholten Lesen des Romans motivieren. Neben einem recht langen und absolut lesenswerten Monologs von Donna Trenton hat mich besonders diese Stelle hier fasziniert (ebenfalls aus ihrer Perspektive): „Wenn es nur noch ums Überlegen ging, ums nackte Überleben, dann überlebte man eben oder man starb, und das schien völlig in Ordnung.“
In Cujo geht es auch um Verantwortung, vor allem um Verantwortung für andere. Die Verantwortung von Brett Camber für seinen Hund Cujo, die Verantwortung von Charity ihrem Sohn gegenüber und die gegenseitige Verantwortung von Eheleuten. Im Roman ist es Donna Trenton, die unter der Last ihrer Verantwortung scheitert und sich, gemäß des oben angeführten Zitats, eben nicht rückhaltlos in den Kampf um Leben oder Tod stürzt, als es um das Leben ihres Sohnes geht. Nur damit wir uns hier nicht falsch verstehen: Selbiges könnte man auch ihrem Ehemann Vic vorwerfen, der Frau und Sohn überhaupt erst durch seine Abwesenheit in diese Situation gebracht hat. Generell empfinde ich hier die Rollen von Männern und Frauen völlig austauschbar und gleichwertig. Fast jeder scheitert auf seine ganz eigene Art und Weise, mit völlig unterschiedlichen Konsequenzen. Über weite Strecken kommt mir Cujo wie ein äußert exaktes Bühnenstück vor, dass die involvierten Personen komplett von der Welt abschneidet und auf sich alleine zurückwirft. Es gibt keinen Ritter in der glänzenden Rüstung, genau wie in unserem eigenen Leben. Wir haben den Abwasch zu erledigen, den Müll rauszubringen und die Familie am Laufen zu halten. Vielleicht ist eines der Kinder krank, möglicherweise haben wir Ärger mit einem Kunden und das Geld reicht nicht. Und genau in dieser Situation kann jederzeit gefordert werden, dass wir unsere Frau und unseren Mann stehen und alles in die Waagschale schmeißen müssen.
Donna Trenton ist deshalb weder Verliererin, noch trägt sie Schuld am Tod ihres Sohnes, zumindest nicht mehr als Vic. Beide haben nicht so funktioniert, wie sie hätten funktionieren müssen. Selbst Cujo ist nicht das Monster, für das ihn der Klappentext des Buches verkauft. Ganz im Gegenteil: Erst die Krankheit macht einen guten Familienhund zum Killer. Ganz am Ende bleiben nur unsere eigenen Unzulänglichkeiten und vielleicht ist es dieser Effekt, der Cujo bereits jetzt für mich zu einem absoluten Klassiker macht!